ELYSIUM >Funfzehn<

Josef Strau befragt Stephan Dillemuth über Fernsehen, Morphologie und Arno Schmidt

Es war einmal ein Kind eigensinnig und tat nicht, was seine Mutter haben wollte. Darum hat der liebe Gott keinen Wohlgefallen am ihm und ließ es krank werden, und kein Arzt konnte ihm helfen; und in kurzem lag es auf dem Totenbettchen. Als es nun ins Grab versenkt und die Erde über es hingedeckt war, so kam auf einmal sein Ärmchen wieder hervor und reichte in die Höhe, und wenn sie es hineinlegten und frische Erde darüber taten, so half das nicht, und das Ärmchen kam wieder heraus. Da mußte die Mutter selbst zum Grabe gehen und mit der Rute aufs Ärmchen schlagen, und wie sie das getan hatte, zog es sich hinein, und das Kind hatte Ruhe unter der Erde.

 

Josef Strau: In dem Film gibt es Szenen, in denen einer, oder was im Film nicht erwähnt wird, nämlich Arno Schmidt, davon spricht, daß sie, die Romantiker, sich gegenüber jedem Kulturgedanken abgrenzen wollten. Ich weiß eigentlich nicht ob das stimmt, es kommt aber im Film (Videofilm in der Ausstellung von SD im April 1994 in der Galerie Christian Nagel, Köln) so vor. Es könnte ebenso zu einer Zeit aufgetaucht sein, in der diese romantische Subjektivität nicht Chaos in der Gesellschaft bedeuten hätte sollen, wie es Schmidt doch meint (Arno Schmidt in Nachrichten von Büchern und Menschen 2, >Funfzehn<), sondern im Gegenteil Kultur einer ganz anderen gesellschaftlichen Situation, nämlich der Situation von nach 1815, na, der Periode der Zerstörung aller Spuren der Revolution. Das ist vielleicht auch nicht so wichtig in deiner Ausstellung. Aber es gibt vielleicht was dabei, was dem entsprechen könnte, was im Filmtext mit romantischem Chaos gemeint ist.

Stephan Dillemuth: Das ist nicht so klar. Im Arno Schmidttext, eigentlich ein Hörspiel, wird nichts über den Begriff "Romantiker" gesagt, aber er will sie vom Klassizismus unterscheiden. Schmidt sagt , die Klassiker sind eben sehr staatserhaltend, weil sie sich und ihren Lesern die Illusion einer stabilen Welt vorsuggerieren, an die Bürger und Politiker natürlich gerne glauben und den Staat entsprechend bilden. Die Romantiker bezeichnet er als die eigentlichen Realisten des Chaos dieser Zeit, angefangen bei der Französischen Revolution. Napoleon besetzt halb Europa, scheitert dann, der Wiener Kongreß versucht alte Stabilität zu restaurieren und die deutschen Patrioten kämpfen für einen Nationalstaat.

Arno Schmidt bezeichnet das romantische Reagieren in dieser brüchigen Zeit, das Abbilden des Chaos, als Realismus. Die Klassiker schickt er in die staatserhaltende, systembildende Ecke. Die Themenstellung in der Ausstellung ist dann auch, daß das Politische in den Bildern selbst nicht thematisiert wird, wie bei den Romantikern, aber daß es vielleicht als eine Haltung dahintersteht. Die Frage ist aber, wie geht man dann um mit der Haltung, die Poltik nicht abbilden will, aber Chaos oder so etwas abbilden will.

JS: Ich will aber nicht nach dem Unterschied von Klassik und Romantik fragen, sondern ich wollte zuerst fragen, ob sie sich gegen die Kultur, die sich aus der Revolution entwickelt, stellen, oder im Gegenteil, später gegen den neuen feudalen Staat, gegen den man auf Chaos macht? oder geht es um Reagieren? Außerdem geht nicht, wie Arno Schmidt vom Chaos nach der Französischen Revolution zu reden, weil er glaubt dann auch daß es Ordnung gibt.

SD: Solche eindeutigen Aussagen kann man von heute aus natürlich nicht mehr machen. Aber ich sehe die Parallele zwischen denen, die die Französische Revolution gemacht haben, und Leuten in Deutschland, die sowas auch haben wollten, um gegen diese monarchistischen Kleinstaaten vorzugehen. Dafür war das Rezept, wir wollen eine Nation und das hat vom heutigen Stand etwas unangenehm nationalistisches, obwohl ich glaube, daß das damals gar nicht so war. Wenn man über staatstragend redet, dann kann man natürlich immer nur über den Staat reden, der damals existiert hat, und das waren eben die monarchischen Strukturen.

JS: Stendhal hat versucht eine romantische Theorie zu schreiben, war aber zugleich total pronapoleon und war dann immer unglücklich über die Zeit des Backlash des monarchistischen und dann aber auch eher nationalistischen und auch romantischen Systems. Aber die Frage ist, ob sie jede Identifizierung nicht nur mit Staat, sondern überhaupt ablehnen wollten?

SD: Das ist bei einem Teil sicher der Fall, aber die haben sich alle in verschiedene Richtungen entwickelt. In die biedermeierliche zu HauseBleib Stimmung im Sinne der Restauration hinein, oder sie wurden ziemlich national, wie die Brüder Grimm als Abgeordnete im ersten Parlament, dann Büchner zB wurde schon wegen eines Flugblattes steckbrieflich gesucht und mußte als Terrorist fliehen. Die Mitgliedschaft in Burschenschaften und Turnvereinen wurde wie Hochverrat geahndet, aber Büchner hat die nicht gemocht weil die immer Vaterland auf den Lippen haben, sich um sonst nichts scheren und nur die nationale Idee im Kopf haben, nicht wie er die soziale.

JS: Was soll das in der Ausstellung mit Anamorphosen und Morfologie?

SD: Auf einer formalen Ebene sind die Spagetti nichts als ästhetisch informelle Bildgestaltung. Kann aber das, was im Bild überhaupt keine Aussage trägt, außer dieses Chaotisch-Amorfe vorzuführen, etwas anderes bedeuten, einer politischen oder sonst einer Haltung getragen sein? Man versucht ja immer, in etwas Unstrukturiertem oder Amorphem eine versteckte Gestalt oder Absicht hineinzusehen, sich hineinzuprojezieren oder es intellektuell zu verarbeiten. Auch der Rundzylinder an der Decke tut so, als ließe sich die darin gespiegelte Ausstellung im Sinne einer Anamorphose entziffern, das ist ein optisches Phänomen. Ich sehe da eine Parallele zum Film über das Elbsandsteingebirge, daß nämlich die romantischen Maler gerade in diese Landschaft gepilgert sind, um zu zeichnen, also nicht mehr klassische Bildgestaltung "Tempel in idealer Landschaft", sondern Rauf -Runter, Gezacktes, Wildes. Das zum Teil Extreme hat ihrer Innenwelt am Besten entsprochen, dh über dieses Außen, Zeichnung als Mittel, das Innere aufs Blatt zu bringen.

JS: Aber auch um von der konstruierten Kultur wegzukommen zur Natur?

SD: Ja, und dann in so eine.

JS: Kultur als natürliche Gegebenheit ablehnen, oder sie sagen Kultur müsse etwas mit Natur zu tun haben, was ja nicht so gut wäre.

SD: Sie suchten im Mittelalter rum. Sie trugen aus Protest gegen die römisch-klassische Haltung altdeutsche Tracht, auch diese Mode wurde teilweise verboten.

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JS: Du hast in letzter Zeit eine Menge Rousseau gelesen?

AS: Die Romantik, mit ihrer verschrienen 'Sprunghaftigkeit', ihrem 'Leichtsinn', ihrem scheinbar kindlichen 'Zauberwesen'- achwas, verwenden wir doch die gängigen Germanistenwitze : 'romantische Ironie', 'Willkür', 'poetische Ungerechtigkeit'! - ist vielmehr der Ausdruck des verwegensten Realismus in Lebensführung und Kunst. Die zugrundeliegende Erkenntnis: daß alles Dasein ein lebenslängliches Hakenschlagen ist, vor der Gefahr des Gefressenwerdens, ist mit nichten 'oberflächlich'; wer sein Leben dementsprechend einrichtet, mit nichten 'leichtfertig'; und der Dichter endlich, der dies Chaos redlich abzubilden unternimmt, mit nichten 'verantwortungslos'!

JS: Das ist ja deine erste Einzelausstellung, oder große erste Einzelausstellung. Da wolltest du deine Themenwahl auch darauf einstellen.

SD: Ich wollte in der Galerie eines Privatmannes keine Friesenwall-Ausstellung machen, was immer das auch sein mag. Ich wollte die SITE CHRISTIAN NAGEL am besten nutzen, indem ich sozusagen affirmativ vorgehe, aber diesen Schritt auch für mich als Herausforderung begreifen. Ich will mir überlegen, wo ich einen Anfang finden kann, was kann ein Kunstobjekt eigentlich sein, bzw was läßt sich über bildnerisches Gestalten überhaupt aussagen? Da waren viele Arbeiten dabei, die soetwas wie einen Anfang thematisiert haben, das Chaotische ist ja immer vor dem Sehen und der Gestaltung.

JS: Interessieren Dich Bewußseinsvorgänge und Erlebnisweisen?

SD: Ist das nicht bei Jedem der Fall?

JS: Nein, ich meine Gestalt.

SD: Eine Auseinandersetzung mit Gestaltung oder Ungestalt ist, wie gesagt, in der Ausstellung drin, führt aber nicht viel weiter wenn man sich nicht fragt, ob man noch etwas anderes sehen will als nur dieses Thema.

JS: In dieser Galerie sind immer nur Einzelpersonen gezeigt worden und es gab kaum einen, mit Ausnahmen, die das ein bißchen thematisiert haben und dafür könnte ja diese Ausstellung stehen, mit einem Beispiel aus alter Zeit, den Zusammenhang der sogenannten Verweigerung gegenüber der kulturellen Institutionalisierung oder deren kritischen schnellen Aneignung. Auf der anderen Seite nochmals mit der Kontextform, gegen den Überdruß, den es da gibt.

SD: Ja, das muß aber nicht betont werden, sonst ist da wieder ein Konzept-Kunst Rahmen drum herum. Eher geht es darum, Begriffe zu testen, verschiedene Lesarten zuzulassen, das bezieht sich sowohl auf die Un-Gestaltung und die Möglichkeit etwas darin zu sehen, wie auch auf die Parallele, die der Film macht, in eine andere Zeit hinein. Kann man zB die Restauration unter Metternich mit der Kohlära, der Rezessionszeit vergleichen? Oder wie ist das mit den revolutionären Romantikern, wenn sie sich hineinentwickeln ins Nationale, ins Biedermeier oder einfach nur scheitern.

JS: In dieser Ära, die jetzt stattgefunden hat, gibt es viele, die wieder Kultur mit Natur erklären wollen. Die nächste Frage ist, wie man es sich abzuzeichnen sieht, daß selbst wenn diese Ära abgelöst wird durch eine sozialdemokratische, daß man das fortführen wird, aber zugleich versuchen, technisch anders zu arbeiten: Kultur und Medien, beides als der Bereich, im Kapitalismus und für die dann außerhalb davon, ohne Warenaustausch. Die Frage ist, du hast bei deinem Vortrag ...

SD: Klar geht das unter der SPD genau so weiter, jetzt eben in Richtung Medien, Vernetzung usf, aber das interessiert mich nicht mehr. Leider ist es überhaupt nicht mehr interessant Fernseh zu kucken, und die Theorie die sich drum rankt, noch weniger. Das habe ich bei dem Vortrag in Wien auch gesagt, daß die besten Fernsehprojekte die waren, die am Fernsehen scheiterten, eigentlich ist das Fernsehen an ihnen gescheitert, an Gerry Schum, an Jef Cornelis auch ein bißchen und an Papertiger auch. Deswegen sind die so gut, weil sie die Beschränktheit des Mediums zeigen, daß sie diese für sich überwinden. Und zirkulieren tun sie sowieso in ganz anderen Bahnen, die noch nicht einmal im Sinne einer Distribution festgelegt sein müssen. Das heißt es gibt eine Form der Zirkulation, die weder institutionalisiert ist, noch sonstwie ausgedacht, sie existiert eben. Meine Filme sind nicht unter dem Fernsehaspekt gemacht, oder mit der Frage, wie positioniere ich mich den Medien gegenüber. Auch das Plündern von anderen Filmen hat nichts mit Medienkritik zu tun, sondern damit, daß man so manches einfacher zeigen kann, als es mit Aufwand selbst zu filmen.

JS: Ich habe gerade einen Kölner Kunstvereinkatalog von 1975 gesehen, in dem es um Künstler und das Fernsehen ging. Alle aber die man sonst nur mit anderen Medien kennt. Man hat den Eindruck, die Hoffnung auf erweiterten Möglichkeiten als erweiterten Aussagen war ausgebrochen, und zweitens die Hoffnung auf die Progression, dh man kommt vom Kleineren zum Großen. Das ist genauso bei Gerry Schum gewesen, das was nach Scheitern aussieht, ist dieser Erweiterungsglaube, und nicht die tatsächliche spätere Realisierung.

SD: Ja klar, klar. In jeder Hinsicht. Das ist eben gescheitert.

JS: Und das zweite, gegen in den Medien arbeiten, ist ... du hast bei der Ausstellung im Corbusiergebäude in Firminy einen Film gemacht, der nicht direkt mit Medien zu tun hat, aber indirekt mit dem Problem, in einem derart stark bereits interpretierten Raum etwas einzufügen, mit einem bereits kulturellen Gebäude zu verbinden. Du hast dort eine Arbeit gemacht, die ohne diese Legitimierung viel besser dastehen würde. Wäre es nicht interessanter, Legitimierung selbst zu betreiben.

SD: Auf was willst du da hinaus?

JS: Daß du beides versucht hast, und fragen, ob die Ausstellung jetzt noch damit zu tun hat? Oder hat sich was Neues aufgetan?

SD: Da war aber auch eine Parallele drin, wie jetzt hier zB die Zeit der französischen Revolution und des Vormärz (die Zeit von 1815 bis zur Märzrevolution 1848, die Red.), man könnte auch sicherlich jeden anderen geschichtlichen Ausschnitt nehmen, aber wichtig ist, daß man dann auf verschiedene Punkte kommt, die man zwar nicht als direkte Beweisführung für die Jetztzeit hernehmen kann, die aber zumindestens neue Gesichtspunkte hereinnehmen.

Aber was anderes, Schüttpelz hat erzählt, daß viele der Romantiker sehr jung zum Katholizismus konvertiert sind, weil sie das so mittelalterlich fanden, und er hat es mit der Neuen Deutschen Welle verglichen. Die hat ja mit total biederen und bürgerlichen Haltungen auf eine sehr lustige und befreiende Weise gespielt, aber dann durch den Erfolg sich sofort damit identifiziert, war alles schon wieder vorbei und nur noch eine stockkonservative und langweilige Geschichte. Also Frage: Wie kann man eine gebrochene Haltung, auch der Kunst gegenüber dann bewahren? Nicht daß man das Objekt oder die Handlung zB nicht so meinen würde wie man sie meint, aber wenn man an das glaubt, was sich als Wirkung daraus ergibt, an die Beständigkeit der eigenen Haltung etc, dann wird es wirklich ernst. Am besten ist die Romantik immer am Anfang, wenn sie noch so etwas ungläubig-spielerisches hat und zu Versatzstücken greift, wie Mittelalter und Katholizismus, aber auch im Sinne von Arno Schmidt realistisch auf das umgebende Chaos reagiert, von mir aus mit rausgestülpter Innerlichkeit. Irgendjemand hat auch behauptet, daß die Nachwirkung der Französischen Revolution zu einer Revolution der Kunst führte, das nannte man dann später die Romantik. Aber wenn man daran wieder glaubt, landet man doch beim Biedermeier.

 

© VOR DER INFORMATION # 1/2 1994


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