Das Genie als Bedürfnis der bürgerlichen Gesellschaft
Das Thema, um das es hier geht, scheint wenig mit der Gegenwart zu tun
zu haben, in der man sich befindet. Genies, das sind Beethoven, Schiller/Goethe,
Van Gogh - alle im dunklen Ottomanen- und Gipskopf-Ambiente des 19. oder
der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dasselbe Ambiente hatte die Akademie,
die ich besucht habe: Schinkelbau: Schadow, Da Vinci, Dürer eingemeißelt
im Fries an der Fassade, im dritten Stock die Glyptothek und das unbestimmte
Gefühl, nach der Aufnahme zu einer dünnen Schicht von Auserwählten/ Begabten
zu gehören. Anfang der 80er hatte meine Akademie immer noch dieselben
Satzungen wie die Richtlinien von preussischen Gymnasien aus dem 19. Jahrhundert.
Das paßt zum Begriff "Genie", ebenso wie eine Prüfung der "künstlerischen
Begabung", die immer noch zu den Aufnahme-bedingungen von Kunsthochschulen
gehört.
Zugegebenermaßen sind Genie-Titel, vor allem in ihren Ursprungsmetiers
Kunst, Musik, Dichtung und Theater, in der Nachkriegsepoche kaum vergeben
worden, trotz einiger schon ziemlich genierartiger Ansätze: Georges Mathieus
großartige tachistische Shows - ganz oben vom Felsen herab, Yves Kleins
blaue Damenabende, Jackson Pollock drippend auf der Schaukel u.v.a.m.;
doch behaupten gerade die beiden genieverdächtigsten, d.h. größere kollektive
Verehrung genießenden Künstler, Beuys und Warhol, daß Künstler- oder Geniesein
eine demokratische Option für jedermann sei, gründen Factories und FIUs
und müßten damit alle Akademien und andere Talentauswahlorgane, wenn diese
ihnen nur geglaubt hätten, zur Auflösung bewegt haben. Der Kunstbetrieb
hätte sich neben Plattenläden und Postershops eingefunden. Vielleicht
- das ist sicherlich eine paradiesisch-naive Vorstellung, soll aber hier
schematisiert stehen bleiben - wären dann Künstler bzw. Künstlergruppen
entstanden, die ebensolche kollektive Verehrung genossen hätten wie Janis
Joplin, die Beatles, Jimi Hendrix, The Who, Sex Pistols ... Vielleicht
wäre so etwas entstanden wie ein Popgeniekult in der Kunst - und Hits/Bilder,
wie YMCA von Village People, die, irgendwo aufgelegt, zur zeitweiligen
Hymne für die Gruppen werden, deren Belange sie thematisieren.
Daß dies nicht zutrifft, ist jedem klar. Denn warum sollte das, was staatliche/
gesellschaftliche Identität bespielt, anders als seine systemische Spielfläche
sein. Abstimmung mit Füßen im Museum oder mit Zetteln bei der Wahl: Den
wenigen kollektiven Entscheidungsspielräumen haftet schnell die Verächtlichkeit
von "Massenkultur" an, die Individualität - on top das Genie
- zu nivellieren droht und zu nichts Großartigem taugt. "Demokratie
und Kunst geht nicht."
[1]
Zumindest ist ein Rest von bürgerlichem Genie in der "bürgerlichen
Gesellschaft" übriggeblieben. Die Annahme, daß es - als Vorstufe
zum Genialen - eine genetische Größe namens Talent gibt, ist die Voraussetzung
dafür, daß es so etwas wie staatliche Akademien überhaupt noch gibt. Sie
veranlaßt Mappenkommissionen und Jurys dazu sich zu versammeln, um Urteile
zu treffen. So wäre dann dieses Restgenie das Bedürfnis aller Jurymitglieder,
deren Interesse im Erhalt der Strukturen liegt, die Hierarchien festlegen,
Entscheidungskompetenzen und Posten verteilen; und auch aller Mappenbastler,
die die Aussicht, wenn schon nicht genial, so doch berühmt zu werden,
bei der Stange hält - und die damit gleichzeitig die Jury in ihrer Kompetenzanmaßung
bestätigen. Stell Dir vor, es gibt eine Ausschreibung und keiner schickt
was hin.
Dieser Text soll einiges zur Demontage des akademischen Ambientes beitragen,
in dem man aufgewachsen ist. Gleichzeitig läßt sich an der Zurückverfolgung
des Genie-Begriffs ausmachen, was bürgerliche Kultur determiniert, wo
ihre Double-Binds liegen. Und schließlich soll die These aufgestellt werden,
daß sich mit dem Genie auch die bürgerliche Gesellschaft
in aller Diskretion längst aus dem Staub gemacht hat und lediglich, in
einigen repräsentativen Nischen abgestellt, potemkinsche Vergegenwärtigung
vorgeistert: bürgerliche Parteien, gutbürgerliche Restaurants und großbürgerliche
Künste. Weiterhin kann man behaupten, daß bürgerliche Kultur nie mehr
als eine sehr filigrane Kruste über einen ökonomischen Apparat bildete,
wobei sie angestrengt bemüht war, diesen Apparat und seine unterirdischen
Stollengänge zur kommerzlosen Insel kultureller Autonomie aus oder vor
ihrem Bewußtsein zu halten - wie eben der leere Magen nicht gerne studiert,
aber der davon Betroffene noch lange nicht notwendigerweise eine Beeinflussung
des Essens auf seine Gedankengänge akzeptiert.
Daß das Bürgertum eine Gesellschaft seiner Ökonomie ist, wurde oft genug
beschrieben. Aus der Vehemenz der Verdrängung dieser Tatsache aber entsteht
das Spannungsfeld, in dem sich die Projektion Genie ansiedelt.
Bei den Ausflügen, die nun ins Dunkel der Geschichte des Bürgertums unternommen
werden, bleibt der Lichtkegel der Taschenlampe sehr begrenzt. Abgetastet
werden die beiden konstituierenden Säulen liberale Ökonomie und Naturrecht.
Das hört sich unmusisch und für die "Genialitätsforschung" ziemlich
ungeeignet an, aber die Verstrickungen des Bürgers und des Genies in diese
Bereiche könnten um so deutlicher zeigen, welches Bedürfnis das Genie
trotz seiner künstlerischen Freiheit innerhalb einer "Gesellschaft
der Bedürfnisse" stillen muß. Dabei ist zu erwähnen, daß die Infragestellungen
des Genie-Begriffs zahlreich sind
[2] . Eine monokausale Begriffsgeschichte in der Art wie "von
Hegel zu Hitler" [3] wäre also recht verkürzt, vor allem wenn man sich dazu entschließt,
Geschichte mit Kontingenzbewußtsein zu betrachten, um sich die Aussicht
auf mögliche Alternativen zu bewahren. So decken die zwei Felder, die
hier betreten werden, bei weitem nicht die schillernden Facetten des Geniebegriffs
ab. [4]
Das "Bürgertum", im 18. Jahrhundert der dritte Stand, umfaßt
Kaufleute, Handwerker, den höfischen Administrationsapparat und den gesamten
Bildungsbereich. Es liegt nahe, ihn mit der heutigen Dienstleistungsgesellschaft
zu vergleichen; er wurde von den Physiokraten, als "classe sterile"
bezeichnet, weil er nichts zum Bruttosozialprodukt beitrug. [5] Mitte des 18. Jahrhunderts wird die Industrie
zum wichtigsten wertschaffenden Faktor. Er entsteht, wenn industriell
organisierte Arbeit und Material zusammenkommen und steckt nicht, wie
zuvor angenommen, in der Kostbarkeit der Materie selbst (Gold/Boden).
Adam Smith erklärt in Wealth of Nations 1776 am Beispiel der Produktion
einer Stecknadel, daß die Arbeitsteilung die epochale Grundlage der industriellen
Revolution bildet. Dadurch vertieft sich die Differenz zwischen Kopf und
Hand in die geistige Arbeit der In-Genieure, die die Maschinen entwerfen,
und die Arbeit als eine Quantität von Handbewegungen und Stundenzahl,
die die Maschinen der In-Genieure am Laufen hält.
Zur selben Zeit entwickelt sich der Geniebegriff des Sturm & Drang
mit ungewöhnlicher Heftigkeit. Goethes Prometheushymne wird zum repräsentativen
Hit der ersten bürgerlich Geniesaison: Die Topoi Feuer, Hüttenbesitz,
Selbsterschaffung [6] und
Belebung toter Materie reflektieren die beginnende Industrialisierung,
indem sie nicht die Genialität des Kunstwerkes, sondern die der kreierenden
Person betonen. Das Prometheus-Genie ist eng an seine Vorfahren in der
Renaissance gekoppelt (Da Vinci, Michelangelo & Co), nur wird es "metaphysischer"
konnotiert, als grundsätzliche Absage an die herkömmliche Religiosität
zugunsten einer eigenmächtigen Schöpferperspektive; deren Kreationen bewegen
sich ausschließlich in der Kunst und überlassen das technische Feld endgültig
den Ingenieuren. [7] So
findet die Arbeitsteilung der Ökonomie eine sie zugleich abwertende Staffelung
in der Kultur: zwischen Kopf (Schöngeist) und Hand (bloß Technik). Die
Verleihung des Genietitels an Erfinder beginnt erst Mitte des 19. Jahrhunderts.
(Im Louvre hängt statt U-Boot- und Prothesenentwürfen eben nur Da Vincis
Mona Lisa).
Ebenfalls wechselten Mitte des 18. Jahrhunderts die Paradigmen künstlerischer
Arbeit: von der von Gottsched vertretenen Doktrin der Nachahmung von Natur
und Geschmack zum Wunderbaren, Göttlichen, Erhabenen, Außerordentlichen
[8] - dem, was sich bis jetzt in "Aura" rudimentär erhalten
hat und Kunstwerke mit der Dignität der Autonomie aufläd. Die Parallelen
zwischen dieser Autonomie und dem Dignitätscharakter der Ware, als "wunderbarer"
mehrwertschaffender Output der Industrie sind öfter gezogen worden. Bereits
Adam Smith hatte die Entstehung des Mehrwerts als Geburt aus Arbeit und
Rohstoff mit dem Flair der Außerordentlichkeit eines wirtschaftlichen
"Wunders" umgeben, so, als wollte er vergessen, daß Mehrwert,
dieses Enzym, das industrielle Entwicklung zur Revolution des Kapitals
macht, sich aus der doppelten Buchführung in bezug auf den Wert Arbeit
ergibt: die berühmten Differenzen zwischen Lohn-, Produkt- und Warenpreis.
Der nicht industriell organisierte Künstlergenius, der also Unternehmer
und Arbeiter in einer Person ist, übernimmt die Rolle eines produzierenden
Einzellers mit Vorführcharakter. Er zelebriert, wie aus schnödem Material,
allein kraft des Geistes und nicht kraft der Abhängigkeitsverhältnisse
von Produktionseigentum, scheinbar unvergängliche Werte geschaffen werden.
Die künstlerische Produktion wird in der Figur des Genies geradezu exemplarisch
vorgeführt - als die programmatische Selbstverwirklichung in repräsentativer
Stellvertretung für die, deren Arbeit in einer Anzahl von Lebenszeitstunden
quantifiziert wird. Was wird aber letztendlich kompensiert, wenn das Genie
schließlich kraft seiner künstlerischen Selbstverwirklichung die Würde
des Humanen an sich (Herder/Schiller) repräsentieren soll? Hier hört der
Humanismus auf, für alle zu gelten: Denn nachahmen kann man ein Genie
nicht, man muß dazu geboren werden.
Aus dieser Disposition ergeben sich für den Bürger und sein Genie einige
Double-binds:
--> Die Ware ist bekanntlicherweise der größte Gegner des Genies, denn ihr arbeitsteiliger Entstehungsprozeß widerspricht dem individualistischen Geniekonzept. In ihrer Vertriebsstruktur ist sie für ein Massenpublikum vorgesehen, hat also, abgesehen von den Eigentumsverhältnissen, die ihre Produktion und ihren Konsum bestimmen, demokratischen Charakter. Dies ist ein Grund, daß bürgerliche Kultur sich schließlich industriefeindlich gibt, ja ihre Daseinsberechtigung von der Warenwelt zunehmend bedroht sieht. Denn die Repräsentanz von Kunst, als Mystifikation des Produktionsprozesses zum "Ding an sich", gedeiht nur in exklusiver Atmosphäre. Für die bürgerliche Kultur tut sich hier die erste Double-bind Situation auf. Sie legt fest, was Kultur bis heute in high und low, kommerziell - nicht kommerziell, akademisch oder bloß Fachhochschule strukturiert und Kunst einen "Bewahrungscharakter" vor der Massenkultur draußen vor der Tür zumutet. --> Das zweite Double-bind ergibt sich daraus, daß zwar in der Rationalisierung von Arbeit letztendlich die Utopie einer gänzlich arbeitsfreien Gesellschaft steckt - dies ist ein Ideal der dem Sturm & Drang vorhergehenden Fortschrittsphilosophie der Aufklärung. Aber diese Utopie wird durchkreuzt durch die Entstehung eines vierten Standes und dem in diesem Ausmaß bisher unbekannten Problem der Verelendung. Rationalisierung [9] bringt, wie wir inzwischen wissen, Arbeitslosigkeit statt Arbeitsfreiheit. Verelendung wird dann gefährlich, wenn - seit der französischen Revolution - eine Auflehnung gegen Unterdrückung für legitim erklärt wird. Die Verelendung des vierten Standes könnte damit zur Gefahr für das Bürgertum werden, das sich gerade konstituiert hat [10] und dessen Existenzgrundlage die Industrialisierung ist. Damit wird nicht nur die "Massenproduktion" der Ware, sondern auch die Masse der Arbeitslosen zur Bedrohung der bürgerlicher Kultur. Bis zu den 20er Jahren dieses Jahrhunderts reflektiert sich die "Angst vor der Masse" in literarischen und künstlerischen Äußerungen. [11] Der Showdown zwischen dem "großen Mann" und der "Masse" wird ein wichtiger dramatischer Bestandteil in Film und Literatur, als Kampf um Beherrschung oder Untergang, Herabgezogenwerden, In-die-Gosse-Kommen, in dem sich paradigmatisch bürgerliche (künstlerische, vgl. 6) Existenzangst ausdrückt. Schließlich entsteht das dritte Double-bind: Die Industrie benötigt, um die Produktionsbedingungen und Abhängigkeitsverhältnisse beizubehalten, einen funktionierenden Staatsapparat und ein Rechtssystem, ohne sich aber von ihm abhängig zu machen. Die Bürgerliche Gesellschaft läuft in die Identitätsfalle, sie will einerseits in ihrer Ökonomie industriell zu sein, doch kokettiert ihr Staatsapparat mit der Aristokratie [12] . Die Konventherrschaft der französischen Revolution währt ganze zwei Jahre, danach beginnt das Zeitalter der Gewaltenteilung zwischen konstitutionellen Monarchien, bürgerlicher Administration und industrieller Ökonomie. Ab da wird das von ökonomischer Einflußnahme ausgeschlossene bürgerliche Staatsgefüge wie auch die es repräsentierende Kultur selbstreferentiell [13] . Ab da übrigens gründen sich mehr und mehr Vereine zur "Pflege der Kunst", ab da verselbstständigt sich sich jenes relativ abgeschlossene Gebilde, das wir heute Kulturbetrieb nennen.
Wenn die bürgerliche Gesellschaft zum Aufbau des Staatsapparates aristokratische
Strukturen übernimmt, so müssen sie dennoch anders legitimiert werden
als durch die herkömmliche theologische Rechtfertigung. Denn in derTheodizee
mochte sich noch eine ständische, auf familialem Erbfolgerecht festgelegte
Gesellschaft projizieren können, aber für Einzelexistenzen konnte diese
nicht mehr greifen. Der nun folgende Rückgriff auf das "Naturrecht"
bildet letztendlich die ideologische Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft,
die nun in Abwesenheit der Transzendenz Stellvertreter wird und sowohl
bürgerliche Ökonomie als auch bürgerliche Kultur zu legitimieren vermag.
Der Begriff Natur ist hierbei so ausbaufähig, daß er die oben aufgeführten
Double-binds in seine Matrix übertragen kann, wenn nicht sogar versöhnt.
Was das Genie angeht, so wird es zunehmend biologistisch interpretiert,
bis daß es gegen Ende seiner Laufbahn von der Industrie als die Denkbarkeit
seiner Züchtung, seiner Reproduzierbarkeit, hinterrücks eingeholt wird.
Bereits in der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts verweist
Staatsphilosophie auf das "Naturrecht", und zwar unter der
erkenntnistheoretischen Voraussetzung, daß Vernunft nicht angeboren sondern
empirisch erworben wird - durch Lernen, indem man die Natur/ Außenwelt
"betrachtet". Der Wechsel der Paradigmen: von der Theodizee
zum Naturrecht, vom Rationalismus zur Empirie und Sensualismus, könnte
ein abstrahierter biologischer Ersatz sein, der den Verlust der familialen
Existenzregelung in der Ständegesellschaft und die daraus folgende, beängstigend
unbegrenzte Einsetzbarkeit in der industriellen Produktion begrifflich
zu fassen versucht. Unterstützen würde diese Spekulation, daß in der liberalen
Ökonomie aufgrund des Naturrechtsgedankens eine Gesellschaftskonstruktion
entwickelt wird, deren Gravitationsprinzip ausschließlich aufgrund der
mit gleichmäßiger Heftigkeit vertretenen Eigensucht ihrer einzelnen Mitglieder
funktioniert. Hobbes "bellum omnium contra omnes" wird durch
unbegrenzte Produktivität in Smiths "Wealth of Nations" kanalisiert.
Die altruistische Patina, mit der sich die liberale Ökonomie umgibt, heißt
"das größte Glück der größten Zahl" und kann nur durch das laissez
faire/laissez aller einer ungehemmten, natürlich belassenen, von keinen
Gesetzen behinderten unternehmerischen Vitalität, erreicht werden.
Diese Vitalität wird letztendlich von der Kulturseite im Geniebegriff
adaptiert. So bildet "Natur" auch bei Rousseau zeitgleich mit
der liberalen Ökonomie die Voraussetzung zur Differenzbildung gegenüber
der aristokratischen Kultur. Der Poet wird von der Natur gebildet und
‘needs no education’. Das barocke Ideal der Universalgelehrtheit, das
das Projekt der Encyclopèdie ins Leben ruft, wird von der Inspiration
durch die Natur abgelöst. Der letztendliche Mangel an einer kulturellen
Alternative zur Aristokratie führt zunächst nur zur Emigration in die
Natur, sie ist die a-soziale Zone einer Autonomie ohne Gesellschaft. Poetische
Mitteilungen aus dieser Zone kommen aber nicht umhin, sich der Sprache
der höfischen Kultur zu bedienen. Die Naturbeschreibungen Rousseaus und
auch Goethes und Schillers Genius-Hymnen sind in anakreontischer Tradition
geschrieben, der Sprache der Schäferspiele und des Herrscherlobs, nur
wird sie anders decodiert. Hamann, dessen Aesthetica in nuce neben Rousseau
von größtem Einfluß auf den Sturm & Drang ist, vergleicht die genialische
Inspiration mit den eleusinischen Naturvereinigungsmysterien der Antike.
So ist es nicht der Künstler als Person, der da spricht, sondern in seiner
Emphase spricht die Natur persönlich durch ihn. Er wird lediglich zum
Medium der allgemeingültigen Substanz, die sich durch ihn vermittelt.
Von da an wird das Genie immer zwischen individualistischem Schöpfersubjekt
und bloßer Medialität schwanken. Der "Natur-Genius" ist noch
im Sturm & Drang ein seltsames Zwitterwesen [14] , das den von der empirischen
Disposition her erst einmal erkenntnislosen Geist inspiriert und den Künstler
begnadet, indem es Natur animistisch [15] macht. Die geniale Herstellung einer Kommunikation
zwischen Natur und Subjekt ist so die emphatische Parallele zum Empirismus.
Dabei wird Wahrnehmung, als Sensualismus die methodische Voraussetzung
der Empirie, umgewertet zur unbewußten, sensitiven Aufnahme von Natur.
Der Genius stellt also genau das ‘missing link’ her, das apriori der Vernunft
abgesprochen wurde - dem aussagefähigen Zugriff auf die Umgebung vor der
Erfahrung. Daß dieser Zugriff sich ungestüm gegen jeden Vergleich zu den
herkömmlichen Kunsttraditionen, jede soziale oder durch kulturelle Abmachung
vereinbarte Sprachregelung wehrt, ist nur teilweise als um so vehementere
Abgrenzung zur höfischen Kultur zu sehen, je mehr sie deren Formen übernimmt
und umwidmet. Andererseits gewinnt diese Umwidmung Ähnlichkeiten mit dem
Vitalismus der liberalen Wirtschaft; beide berufen sich auf dieselbe Basis:
Naturrecht und Empirismus. Die Attribute der Innovativität, Originalität,
der Traditionsfreiheit, was sowohl für ästhetische als auch moralische
Kriterien gilt, sind ab nun konstituierend für jedes Genie (und für jeden
Unternehmer). Die Grenzen zwischen dem freischwebenden Genius und seiner
personalen Installierung zum Genie sind fließend. Was die Natur angeht,
geschieht eine folgenschwere Umwertung zur genetischen Prädestination.
Denn die geniale Person ist apriori demnach begnadet - eine Form der bürgerlichen
Über-nahme fürstlicher Souveränität. Kant definiert Genie als "angeborene
Gemütslage".
Nun übernehmen die Naturwissenschaften die Untermauerung dieses Angeborenseins
als biogenetische Größe. 1775 schrieb Lavater unter Mithilfe Goethes die
"Physiognomischen Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis".
Darin geht es um die Lehre der Ausprägung seelischer und ererbter Merkmale
in Gesichts- und Schädelform. Diese wird Anfang des 19. Jahrhunderts weitergeführt
in der Phrenologie von Gall
[16] . In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vertritt Cesare
Lombroso unter Berufung auf Lavater und Gall die Ansicht, daß Verbrechen
das notwendige Ergebnis der genetisch festgelegten physiologisch-psychologischen
Eigenart des Täters seien. Seine zweite Arbeit handelt von den Beziehungen
zwischen Genie und Wahnsinn. Genie ist seiner Meinung nach ein Ergebnis
besonders großer Rassenmischung und deswegen nah am Pathologischen.
Die Befürchtung, daß mit dem Fall der Aristokratie auch
deren Kultur und administrativer Apparat, als das, was staatliche Identität
ausmacht, von der Ökonomie zu einem Konglomerat "einziger Eigentümer"
[17] zerstört wird, wurde schon erörtert. Die Relativierung des Geniebegriffs
der Sturm & Drang-Phase entwickelt sich analog zum Unbehagen an der
liberalen Ökonomie und der Suche nach einer neuen ideologischen Basis.
Herder sieht in dem zum Äußersten getriebenen Individualismus des Genies
die Gefahr, daß aus einer Ansammlung von einzelnen "dynamischen Kraftzentren"
eben keine "Kultur" entsteht. Natur, Natürlichkeit wird nun
sowohl als Gegenbild zum Absolutismus als auch verschiedentlich als beginnendes
Gegenbild zur Industrie auf die ethnischen Identitätskonstruktionen Volk,
Volkskunst und "Muttersprache" projiziert. Größter Hit der Saison
diesmal: die schottischen Ossian-Gesänge, über die Werther und Lotte vereint
ins Seufzen geraten. Der Volks"souverän" bildet die ideologische
Grundlage eines nachabsolutistischen Staates und einer neuen künstlerischen
Identitätsfindung, die sich damit endgültig von ihren höfischen Traditionen
losmachen kann.
Das Genie wird nun statt Natur- Volksmedium. Wie beim
Naturgenius ist es wieder nicht ganz auszumachen, wer eigentlich beseelt/
genial ist - das Subjekt, das spricht, oder seine Sprache - Natur/ Volk.
Herder spricht von der "kollektiven Erbmasse" des Volkes, die
den Künstler herausbildet.
[18] Vielleicht durch die zeitgleich entstehende Botanik beeinflußt,
wird die Entwicklung von Genie und Volk als "Dynamik" aus sich
selbst heraus, als etwas Lebendiges, Biologisches beschrieben - und gewinnt
eine sowohl organische als auch pflanzliche Metaphorik. "Man kann
von einem Originale sagen, daß es etwas von der Natur der Pflanzen an
sich habe, es schießt selbst aus der belebenden Wurzel des Genies auf,
es wächst selbst, es wird nicht durch Kunst betrieben" [19] Interessant ist es, zu überlegen, welche
Konsolidierungsbedürfnisse
[20] sich innerhalb dieser Metaphorik zu Wort melden, die sowohl
das Kunstwerk als auch den Staat als organische Ganzheit betrachten: -
staatliche Einheit auf der Legitimationsbasis der Identität Volk: die
Nation - ideologische Einheit aufgrund eines Anspruchs der Integration
aller Lebensbereiche innerhalb der "totalen" Ganzheit des Gesamtkunstwerks?
Die Pflanze wächst zwar autonom, nicht durch herkömmliche
Kunstregeln, sondern durch Biologie gesteuert, aber sie wächst, wie es
ihr innerer Plan vorschreibt, hat also ihre biologische "Vorsehung".
In seinen "Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit",
entwirft Herder ein Geschichtsmodell, das an der geschichtlichen Perspektive
der Aufklärung zwei einschneidende Änderungen vornimmt: 1. Nicht die äußeren
Entstehungsbedingungen, sondern die "genetische Bestimmung"
des Volkes beeinflußt den jeweiligen Geschichtsverlauf. 2. Der unendliche
Fortschritt zur Utopie einer aufgeklärten und arbeitsbefreiten Gesellschaft
weicht dem Zyklus des Wachstums, der Blüte, der Dekadenz und des Untergangs
des Volksorganismus. Dies bleibt solange diskursfähig, wie das emanzipatorische
Anliegen an die Souveränität und Würde aller Völker noch nicht von der
Priorisierung eines Volkes überdeckt wird. Es wäre deswegen grob verkürzend,
Herder, die Grimms, Schelling, Brentano u.a. als Vorläufer nationalistischer
Ideologie zu denunzieren. Doch ist die Entwicklung vom Volkskörper als
ideologischer Grundlage des Staatskollektivs über die konstitutionellen
Monarchien mit ihren jeweiligen kolonialen Beherrschungsphantasien zu
geradlinig, um ignoriert zu werden.
Das letzte Bindeglied, das Volks- oder Einzelgenialität
schließlich zum Attribut der Rassenauslese macht, ist der Darwinismus,
ebenso wie er nach dem Naturrecht nun die naturwissenschaftliche Legitimation
für das "Survival of the Fittest" der liberalen Ökonomie bildet.
Wenn dem mechanistischen Erfindungsgeist des technischen Genies als letzte
Konsequenz die Selbsterschaffung als Maschinenmensch nahe lag, mochte
dem aufgeklärten Zeitgenossen in den kühnsten Träumen vielleicht noch
die Befreiung von Arbeit durch die Weiterentwicklung der Dampfmaschine
zum Roboter schwanen. Die biologistische Parallele dazu findet sich im
Genie als Kreation seines Volkes oder in der Heranzüchtung des genialen
Volkes selbst, womit die Industrie Genialität als Residuum bürgerlicher
Kultur endgültig vereinnahmt, indem sie Genialität via Züchtung als artifizielles
Produkt reproduzierbar macht. 1853 erschien der "Essai sur l'inegalité
des races humaines" von Gobineau, in denen der demokratische Gleichheitsgrundsatz
als naturwidrig verurteilt und die "arische Rasse" [22] vor allen anderen priorisiert
wird. 1869 wird durch Darwins Vetter Francis Galton die Eugenik als Wissenschaftszweig
gegründet. 1896 erschien Vacher de Lapouges Schrift "Les selections
sociales" ein Vorschlag zur systematischen Rassenauslese mittels
bestimmter Injektionen. Diese Auslese gilt den Ariern als dem genialsten
Volk. Vacher Lapouge legt Landkarten an, in denen er das dichteste Vorkommen
an Genies verzeichnet, das sind die nordischen, arischen Länder.
Der Kollaps der Züchtung von Genies im Nationalsozialismus bedeutet nicht
nur für eine biologistische Tradition des Geniebegriffes eine Zäsur, sondern
für sein gesamtes ideologisches System, das sich als Kompensation von
Industrie bürgerliche Kultur nennt. Zumindest sollten hier in den Verbindungen
des Genialen zu Naturrecht und Ökonomie einige Verdachtsmomente dafür
aufgezeigt werden. Ebenso wurde der Verdacht, der akademische Kunstbetrieb
sei eine Enklave in der zu tummeln wir uns nun mal entschieden haben,
bereits anfangs geäußert, und dies unter stiller Bewahrung des biologistisch-genialischen
Prädestinationscharakters.
Im Wiederaufbau nach dem Weltkrieg wird zunächst auf das humanistische
Poten-tial der Vorkriegskultur zurückgegriffen: Schauen, was noch heil
geblieben ist [23] . Die
Unvereinbarkeit von Genialität mit autonomer Ästhetik war in Adornos Einwand
unüberhörbar, daß es unmöglich sei, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben,
ebenso wie die Gruppe 47 gegenüber Genialität ein tiefes Mißtrauen hegte,
aber erst '68 realisierte mit der Aufarbeitung der verdrängten Karrieren
der vorhergehenden Generation öffentlich, wie tief eigentlich die Zäsur
vor und nach dem 2. Weltkrieg wirklich war. Gleichermaßen ubiquitär wurde
die Gegenidentifikation mit dem eher antigenialischen/ bürgerlichen Pop
[24] .
Die "Kulturträger der BRD" sind mittlerweile, nach dem Marsch
durch die Institutionen stolz und erleichtert auf die kathartische Wirkung
von '68. Es scheint so, als ob es sich 25 Jahre später aufgrund eines
nie wieder verifizierten "progressiven" Selbstverständnisses
um so ungehemmter deutschtümeln ließe. So geschieht hier die Betonung
der biologistisch-nationalistischen Perspektive des Geniebegriffes teilweise
auch aus aktuellem Anlaß, weil man überdrüssig ist, die TV-Übertragung
von Gründungen deutschnationaler Kulturstiftungen unter dem Goethe-Schiller
Denkmal in Weimar, die erneute Talkshowfähigkeit nationaler Identität
durch Walser, Enzensberger, Strauss, Syberberg u.v.a.m. immer nur vom
Bildschirm zu zappen ... und zu wissen: im anderen Kanal läuft das ZDF
trotzdem weiter und maßt sich Repräsentanz an, auch über die eigene kulturelle
Identität, die längst eher synchron als diachron historizistisch verläuft
und die vor allem international ist.
[25]
Die Übertragung von Genie auf Popstar funktioniert nicht,
denn die Medialitäten, dieses Wer-spricht-aus-wem? sind unvereinbar geworden.
Verstand sich das Genie als Medium, in dessen Rede- Bilderströmen sich
Natur, im Sinne von Wahrheit/Recht, Recht/Staat, Staat/Volk, Volk/Geschichte
veräußern darf, was mag aus dem Star anderes als der Kapitalstrom selbst
sprechen -, dieses substanzlose Chamäleon, das von der bürgerlichen Kultur
so sorgsam noch hinter der Naturkulisse versteckt wurde und innerhalb
der ästhetischen und staatsrechtlichen Farbenpracht umherwandelte. Verdrängt
wurde dabei, daß bürgerliche Organisationsformen - seien sie kulturell,
kirchlich oder staatlich - lediglich Funktionseinheiten, Körper des Kapitals
sind. Dabei wird das Genie durch sein Autonomiephantasma in die Lage gebracht,
sich zum Subjekt zu verfestigen, dessen "Ich widersage" die
genügende Substanz besitzt, offiziell als humanistischer Widersacher des
Stroms und seiner Substanzlosigkeit zu gelten. So erhält das Genie sogar
oppositionelle Funktion, die aber repräsentativ und eben nicht politisch
ist: Denn durch seine Außerordentlichkeit ist es keine Option für alle.
Auch der Star hat Geschichte, ist nicht mehr der Neueste. Er gedenkt sich
selbst, wird postmodern und fraktalisiert sich zusehends immer mehr. Da
sich dessen Konsistenz von Beginn an statt auf Natur, Körper, Gen auf
die industriell reproduzierbaren Stoffe Schellack, Celluloid, Silberbromit,
Vinyl, Alu, Halbleiter und Glasfaser stützt, wird es nun immer schwieriger,
auf ihn zu projizieren, ohne dabei nicht auf das Medium selbst zu treffen,
das, nun losgekoppelt von Identitätszuschreibungen, Schnitte, Entnahmen,
Neukombinationen zuläßt und schließlich zum kollektiven Sampling-Material
- legal oder illegal - freigegeben ist. Jenseits des üblichen Geld-Warentauschs
sind viele Formen der Aneigung möglich: Klauen, Kopieren, Ins-Kaufhaus-gehen-und-dort-spielen,
Umpolen, Montieren, Basteln, Tunen. Damit wird Platz für Subsubkulturen,
artifizialisierte Hybriden, die den Geld- Warentausch, den bisherigen
eigentlichen Kommunikationsweg der bürgerlichen Gesellschaft, vermeidbar
machen. Subsubkulturen [26] , - es ist nicht eine, sondern viele - taugen
nicht zur Repräsentanz. Sie sind so promiskur wie ihr Medium - das Kapital
- selbst, haben kein oder ganz viele Bekenntnisse, freuen sich vereinnahmt
zu werden und lassen jene Konstruktion von Identitäten vermissen, die
dem Kapital die bisherige Kostümierung liefert. Schmarotzertum statt Dissidenz,
Unterhöhlungen statt Subjekterektionen, Subsubkulturen sind - und hier
lauert die eigentliche Angst der bürgerlichen Gesellschaft und seines
Genies vor einer Kultur, die ernst macht mit den Konsequenzen des Kapitals
- zersetzend und amoralisch.
Die schöne Aussicht, den Kunstbetrieb als Teil dieser bürgerlichen Kultur
immer mehr mit den Methoden der Subsubkultur zu infizieren, und die lustvollen
Kurzschlüsse, die sich aus dieser Demontage ergeben, ist das, was einen
vielleicht jetzt mehr bei der Stange hält, als die Aussicht in verschämter
Genienachfolge postmoderner Kulturrepräsentant zu werden.
[1] so ein
Teilnehmer bei einer Diskussion über Künstler und Kuratoren in der Kunsthalle
Düsseldorf im September 94
[2] Schon Goethes Werther setzt sich kritisch mit
dem eigenen Genie-Narzißmus auseinander. Je mehr der Geniebegriff zum
Träger einer bürgerlicher Kultur avancierte, umso mehr dissidente Stimmen
gibt es hierzu : Indem man beispielsweise seinen Prädestinationscharakter
demontiert und allen Menschen grundsätzliche Genialität zubilligt (der
späte Herder, Hamann, Schillers ästhetische Briefe). Die Frühromantik
zieht anstatt der konstituierenden genialen Attribute der Ganzheitlichkeit,
Emphase und "Natürlichkeit" fragmentarische Artifizialität vor
(Schlegel). E.T.A. Hoffmanns Kater Murr persifliert Goethes autobiographische
Selbststilisierungen. Der gesamte Naturalismus (Hauptmann, Zola) nimmt
die Milieubedingtheit der Person an, was ‘Genie’ ausschließt. Als zusammenfassende
Beurteilung des Genies und seiner bürgerlichen Kultur sehr zu empfehlen
ist Heinrich Manns Professor Unrat - also das Buch zum Film!
[3] Dies ist der Titel eines Buches von Gert Kaltenbrunner,
das die Verantwortung des Kollektivs auf die "deutschen Geistesgrößen"
umschuldet. Die Tradition dieser Lesart fußt auf der Reeducation-Politik
unter dem Einfluß der McCarthy-Ära, und ist eine sowohl ökonomisch wie
politisch motivierte Offensive gegen den "Weltkommunismus":
Truman-Doktrin, Marshall- statt Morgenthau-Plan und damit schnellstmögliche
Reaktivierung der dt. Industrie samt Blitz-Entnazifizierung ihrer Funktionäre.
BRD-Ansätze zur Sozialisierung der Wirtschaft wurden unterdrückt: Zerschlagung
des Massenstreiks 1947/48, Zurückweisung der gewerkschaftlichen Forderungen
nach Mitbestimmung, Ignorierung der Volksabstimmung von 1946 in Hessen
für die Verstaatlichung der Schlüsselindustrien. Dies alles hatte Konsequenzen
in bezug auf die Faschismusaufarbeitung und damit direkt auf eine Kultur,
für deren Identität gerade jene der Dreh- und Angelpunkt ist. Die Reeducationfassung:
Faschismus als psychopathische Konsequenz des deutschen Idealismus (John
Dewey/C.G. Jung/Meinecke) klammerte dessen ökonomische und industrielle
Voraussetzungen bewußt aus. Im Gegenteil, die Individualität und Systemunabhängigkeit
der freien Kunst wurde als notwendige künftige Voraussetzung ihrer politischen
'Unschuld', d.h. Autonomie, gesehen.
[4] Einige Beispiele aus der vielfältigen Literatur:
Jochen Schmidt: Die Geschichte des Geniegedankens von 1750 - 1945; Axel
Gehring: Genie und Verehrergemeinschaft; Reinhart Koselleck: Kritik und
Krise - Studien zur Pathogenese der bürgerlichen Gesellschaft; zu Genie
und Dekadenz: Mario Praz : Liebe Tod und Teufel. Wer wissen will, was
sich hinter dem Titel "Genieforschung" verbirgt, vgl. Lange-Eichbaum:
Genie, Irrsinn und Ruhm - ein Kompendium aller biologistischen und rassistischen
Genietheorien, das 1992 (!) neu aufgelegt wurde und immer noch Grundlagenbuch
dieser "Forschung" ist.
[5] Wertproduzierender Stand: Landwirtschaft/Grundbesitz;
konsumierend: Adel, Klerus, König. Der Merkantilismus berücksichtigt schließlich
die Wichtigkeit des Handels und hält ihn durch Schutzzölle und gezielte
Exportpolitik/Importpolitik in Abhängigkeit zum absolutistischen Staat
(Colbert). Mit dem Liberalismus emanzipiert sich das Bürgertum als ökonomische
Klasse von staatlich gelenkter Wirtschaft. Gleichzeitig ist zu fragen,
ob der bürgerlich revolutionäre Freiheitsbegriff nur Abfallprodukt des
viel intensiveren Verlangens nach einer liberalen Wirtschaft war. Vgl.:
National- und Antischutzzollbewegung in Deutschland zur Zeit der Restauration.
[6] 1818 schreibt Mary Shelley den Roman "Frankenstein",
der ein ganzes Genre von Schauergeschichten zum Selbsterschaffungshorror
und anderen pathologisch-genialen Forschermonstern (Dr. Mabuse, Dr. Jekyll)
eröffnet. Neben der "Unheimlichkeit" einer Naturwissenschaft,
die sich - eben prometheisch - anmaßt, Gott gleich zu sein, taucht erneut
auch das Motiv der Verwandtschaft zwischen Genie und Wahnsinn auf.
[7] Wobei die Strukturkrise der Kunstbranche in Renaissance
und beginnendem Bürgertum ähnlich ist; beidesmal ist die berufliche Identität
erschüttert (Renaissance: Verlassen der Zünfte/ Bürgertum: Verlassen des
Hofes), was Selbststilisierungen unumgänglich macht. Dennoch gewinnt die
tiefe Differenz der mit Vehemenz proklamierten genialischen Kreativität
des Individuums zur zeitgleichen epochalen Gleichschaltung vormals handwerklicher,
individueller Arbeit Symptomcharakter.
8 Die Schrift des Pseudolonginos "Vom Erhabenen"
übte auf das gesamte 18. Jahrhundert einen großen Einfluß aus. Der Dichter
spreche aus einer göttlichen Begeisterung heraus und sei von einem Pneuma
erfüllt. Die Schweizer Ästheten Bodmer und Breitinger entwickeln aus dem
Erhabenen den Begriff des Wunderbaren, der konstituierendes Attribut für
das geniale Kunstwerk wird.
[9] Da die sozialen Folgen der Industrialisierung absehbar waren,
gab es schon früh eine breite Industriefeindlichkeit auf Seiten der in
Zünften organisierten Schicht des Bürgertums: Marx (Kapital, Bd. 1, S.
385, Ullstein-Ausgabe) zitiert aus einer Schrift des italienischen Abbé
Lancelotti (ca. 1597) : Anton Müller habe eine sehr künstliche Maschine
in Danzig gesehen, die 4 - 6 Gewebe auf einmal verfertigte; weil der Stadtrat
aber besorgt war, diese Erfindung möchte eine Menge Arbeiter zu Bettlern
machen, habe er die Erfindung unterdrückt und den Erfinder heimlich ersticken
und ersäufen lassen. Diese Maschine wurde noch 1685 per kaiserlichem Edikt
in ganz Deutschland untersagt und fand - nach der Befreiung der Wirtschaft
von staatlicher Reglementierung - ab 1765 öffentlichen Gebrauch.
[10] Unter dem Abschnitt "Die Polizei und die
Korporationen", erwähnt Hegel in seiner Rechtsphilosophie das Problem
der Armut als aporetisches Resultat der bürgerlichen Gesellschaft: "Das
Herabsinken einer großen Masse unter das Maß der Subsistenzweise (...)
führt damit zum Verlust des Gefühls des Rechts (...). Die Armut selbst
bringt noch keinen Pöbel hervor, dieser wird erst bestimmt durch die sich
mit der Armut verknüpfende Gesinnung der inneren Empörung gegen die Reichen,
die Gesellschaft, die Regierung." (S. 398, Suhrkamp-Ausgabe)
[11] Sehr früh schon wird Industrialisierung in Goethes
Wilhelm Meister II als Zerstörung der idyllischen Landschaft und ihrer
Sozialstruktur gesehen. Bei den Romantikern wird das "Handwerk",
das "Dorf" zum zentralen Topos sozialer Idyllik, Eichendorff
schildert eine Literaturfabrik, die ein gesamtes Tal verpestet und eine
Unmenge von Büchern, die keiner liest, produziert; im 20. Jahrhundert
wandeln sich die antiindustriellen Strömungen zum allgemeinen Kultur-
und Zivilisationspessimismus. Zur Angst vor sog. "Blutchaos"
in den Metropolen, d.h. Rassenmischung innerhalb der zugezogenen Arbeiter"massen",
und den präfaschistoiden Tendenzen s. Theweleit: Männerphantasien, Teil
1; Teil 2 wird leider sehr kryptisch.
[12] Benjamin sieht den Wendepunkt in der Entwicklung
des Citoyen zum Bourgeois. Selbst in der radikalsten Phase der Konventherrschaft
wird die Eigentumsfrage als Grundlage des bürgerlichen Wirtschaftssystems
von einer Umorganisation ausgeschlossen. Der "Kommunist" Babeuf
wird 1797 hingerichtet. Wie sehr die Eigentumsfrage konstituierend für
das bürgerliche Selbstverständnis ist, vgl. Hegel, der die Person als
Rechtsperson dadurch kennzeichnet, daß sie besitzt, und wenn es auch nur
der eigene ausbeutbare Körper ist, Locke, die ausschließliche Kommunikation
zwischen den Menschen als Warenbesitzer, ebenso Rousseau: Vom Ursprung
der Sprachen; Sprache entsteht am Brunnen, wo Hirte und Schäferin sich
begegnen und Waren miteinander tauschen wollen.
[13] "Der Staat (...) ist heute einem Kräfteverhältnis
untergeordnet, dessen Ströme er koordiniert (...) er muß für die Ströme
des Geldes, der Ware und des Privateigentums Codes erfinden und einrichten.
Nicht mehr er stellt die herrschende Klasse dar, vielmehr wird er durch
diese unabhängig gewordene Klasse selbst geformt, die ihn in Dienst ihrer
Macht und ihrer Widersprüche, ihrer Kämpfe und Kompromisse stellt. Er
ist nicht mehr transzendentes Gesetz, mehr schlecht als recht muß er ein
Ganzes entwerfen, dem er ein immanentes Gesetz vorgibt. (...) Eine analoge
Entwicklung ist für die technische Maschine nachgewiesen worden, insofern
diese kein intellektuelles System mehr darstellt, sondern nun Verhältnis
geworden ist, das einem als konkretes physisches System (Arbeit) sich
geltend machenden Kräftefeld (Kapital) untergeordnet ist. " Deleuze
/ Guattari : Anti-Ödipus, Ffm. 1974
S. 284 [14] Hier wird der religiöse Geniusbegriff aus der
Antike übernommen, der Dichter wird von einem Dämon überfallen, der ihn
in die Emphase treibt. In dieser Entrückung redet er göttliche Wahrheit.
Die bis zum 20. Jahrhundert zu beobachtende Verbindung von Genie und Wahnsinn
wird auch von diesem Zustand göttlicher Entrückung durch die Inspiration
gespeist, nur nach und nach biologischer interpretiert, als Degeneration
des Hirns oder der Rasse, vgl. Lange-Eichbaum: Genie, Irrsinn und Ruhm
[15] Ohne weiter darauf eingehen zu können, muß wenistens
der damals sehr einflußreiche Pantheismus/ Spinozismus erwähnt werden,
die Diskussion um eine Auflösung des individuellen Gottesbegriffes in
der Beseelung der Natur.
[16] "8. Juli 1805: Hielt der berühmte Doktor
Gall seine Vorlesung über die Schädellehre (...). Das Publikum war sehr
zahlreich (...), daß wir hier nicht nur unsere berühmten Professoren,
die fast in summa gegenwärtig waren, fanden, sondern auch den unsterblichen
Goethe kennen lernten, welcher nämlich (...) täglich das Schädelcollegium
besuchte, wodurch wir die Physiognomie dieses großen Mannes (...) beobachten
konnten." (Eichendorff, Tagebücher)
[17] Max Stirner: Der Einzige und sein Eigentum,
ist die anarchistische Fortführung der liberalen Ökonomie unter Ablehnung
jeder über den Eigenerhalt hinausgehenden gesellschaftlichen Verpflichtung.
[18] Nietzsche wird später behaupten, daß die Sinngebung
des Volks ausschließlich darin bestehe, das Genie, den "großen Mann",
zu "gebären". Und Benn wird schließlich seinem Vorbild widersprechen
und behaupten, daß der Künstler Diener des deutschen Volkes und seiner
Vorsehung sein muß.
[19] Herder setzt sich für Deutsch im bisher lateinischen
Lehrbetrieb ein, denn das "große innerliche Gefühl eines Bewußtseyns"
gehe verloren,"daß man das Ganze habe, verloren das Hausherrn und
Eigenthumsrecht ... kurtz verloren das, was man Genie nennt." (125,
Jochen Schmidt - Anm. 3)
[20] Die Gegensatzpaare und Spaltungen, mit der sich
die zeitgleiche idealistische Philosophie herumschlägt, sind sattsam bekannt:
Subjekt/Objekt, Stoff/Form, Geist/Materie, Vernunft/Gefühl, Allgemeines/Besonderes,
Freiheit/Notwendigkeit. Schön dekliniert und mit anrührender Mühe in die
Versöhnung durch die Kunst (Spieltrieb) getrieben, findet man sie in Schillers
Ästethischen Schriften. Die Umnotierung dieser Antagonismen hinsichtlich
der "fundamentalen Asymmetrien zwischen körperlicher Arbeit und Kapital"
(Deleuze/Guattari), zwischen den beiden Geldformen, zwischen den Kategorien
Lebenszeitstunde und Preis, Ökonomie und Recht, Staat und Wirtschaft,
ist oft genug geschehen. Das schließt eine Denunziation des Idealismus
als "Unwahrheit" nicht unbedingt mit ein, sondern eher seine
Würdigung als großartige kompensatorische Leistung angesichts der Tatsache,
"daß diese ganze Geschichte von Grund auf schizo ist" (ebd.)
Bei der späteren Übernahme der idealistischen Antinomien in die Ästhetik
der "neuen Linken", samt der Rolle der Kunst als "emanzipatorischer"
Synthese (Hans Heinz Holz), wird die aktuelle Ökonomie der BRD zugunsten
einer hermeneutischen Aufladung des berühmten Warenfetischkapitels samt
"dem Arbeiter" ignoriert, und gerade in bezug auf die "Arbeiterkultur"
alle Eigenschaften der bürgerlichen Kulturmentalität fast exemplarisch
vorgeführt: Dirigismus, Massenangst, Kulturpessimismus und Enklavengefühle,
mehr dazu in Anm. 25.
[21] In Musils Roman beschließt Ulrich aufgrund
der Entdeckung dieser Schlagzeile, Mann ohne Eigenschaften zu werden,
weil durch die Banalisierung des Geniebegriffs die Anreize zur kulturellen
Leistung verloren gehen. Das Kapitel verweist auf die bereits in den 20er
Jahren virulente Verbindung von Biologismus und Führertum im Begriff Genie,
der hier innerhalb des gesamten kulturellen Spektrums in Wien in den 20ern
facettenreich vorgeführt wird: die Salondame Diotima, der geniale Unternehmer
Arnheim, die Nietzsche- und Wagnerianer Clarisse und Walther, der pathologische
Thrill des Sexualverbrechers Moosbrugger und schließlich Hans Sepp (Depp?),
der jugendbewegte Expressionist, der wegen der vermeintlichen Genialität
der Deutschen den Anschluß will. Ulrichs weitere Ausführungen zum Genie
geschehen bezeichnenderweise im Ambiente des Frühsports: "Ulrich
hatte die Wissenschaft als eine Vorbereitung, Abhärtung und Art von Training
betrachtet. ... Die Wahrheit ist, daß die Wissenschaft einen Begriff der
harten, nüchternen geistigen Kraft entwickelt hat, der die alten metaphysischen
und moralischen Vorstellungen des Menschengeschlechts einfach unerträglich
macht, obgleich er an ihrer Stelle nur die Hoffnung setzen kann, daß ein
ferner Tag kommen wird, wo eine Rasse geistiger Eroberer in die Täler
der seelischen Fruchtbarkeit niedersteigt."
[22] Interessant zu sehen ist, daß sich die Konstruktion
"Volk" und die Entwicklung zu "Rasse" und "arisch"
zuallererst an Sprache/ Philologie festgemacht wird: die Ablehnung des
Französischen (der französischen Absolutismus-Hegemonie), aber noch viel
mehr und grundsätzlicher des Lateinischen, als Ablehnung der römisch-katholischen
Organisation von Kultur. Forschungen nach Sprache als Ursprung/Sprach"wurzeln"
- "indogermanische" "Volks"-Sprachen gegenüber "römischer"
Rechts-, Kartographie- und Verwaltungssprache. Sprache als ethnisches
Volkskonstruktionsmedium lehnt Historizität ab, um substantiell zu sein.
Ein neuer Universalienstreit - die Worte haben biologistische Substanz,
sind nicht arbiträr, sondern essentielles "Rauschen der Erbmasse"
in den Wortwurzeln. Arbiträr wäre es, die Historizität der die Sprache
strukturierenden Rechtssysteme anerkennen zu müssen. Weit über die Säkularisierung
hinausgehend ist Latein Besatzersprache. Auch die ethnische Identität
hält sich jenseits des römischen Rechts- bzw-. Verwaltungssystems auf
- der wilde Germane. Sprache wäre hier das biologistische Pendant zum
Natur-Recht, bzw. zur vollkommenen Rechtslosigkeit liberaler Ökonomie,
das nur das Recht auf Eigentum und vererbbares Eigentum als substantiell
anerkennt; Vererbbarkeit könnte damit das Vehikel einer philologischen
Staats-/Ökonomiemetaphysik werden: Die Konstruktion Volk, als Erb- statt
Rechtsgemeinschaft. Ein Neoprimitivismus (Entcodierung) der Umgangsformen
zum ökonomischen Faustrecht und staatlichen-völkischen "Blut"-/"Sippen"recht.
[23] Schnelle Rehabilitation genossen Gründgens,
Furtwängler, etwas später wurde Breker von Ludwig gekauft und Benn von
Enzensberger gewürdigt. Wie sämtliche Strukturen der BRD wurde auch der
Kunstbetrieb unter Zuhilfenahme nationalsozialistischen, pardon, reeducateten
Personals wieder aufgebaut, Will Grohmann wechselt z.B. von der Zeitung
"Das Reich" zur FAZ, und wird 1955 Documenta-Ausschußmitglied.
Mehr hierzu in: Jürgen Weber: Entmündigung der Künstler, 1981, ein recht
kulturpessimistisches Buch, aber mit dem Vorteil, sowohl das kennenzulernen,
was "humanistische" Kulturauffassung (mit allen Ambivalenzen)
ist, als eben auch einige prägnante Beispiele des Ideologiewechsels
[24] In Texte zur Kunst Nr. 6, 1992 hat sich Tom
Holert die Mühe gemacht, über Ästhethik der "Neuen Linken" zu
referieren und ihre akademischen Sackgassen und Diskursverhärtungen aufzuzeigen.
Die Selbstgefälligkeit und der Dirigismus ebenso wie die bürgerlichen
Symptome dieser Ästhetik wurde bereits in Anm. 20 erwähnt und scheinen
das Schicksal ihrer Vertreter, den Marsch durch die Institutionen und
das Klebenbleiben auf den verschiedenen pensionsberechtigten Stufen vorzuzeichnen.
[25] Wie alle mittlerweile ästhetisierten Phänomene
war '68 schön, und alles Schöne muß bekanntlicherweise scheitern. Unästhetisch
wird das Phänomen '68, wenn sie die zugestandene Enklave subventionierter,
kultureller Diskussionpflege verläßt und versucht, ihre staatliche Einbettung
selbst zu reflektieren. So sind Radikalenerlasse, Vermummungsverbote,
Isolationshaft und Sympathisantenjagd aus dem kulturellen Gedächtnis weggebeamt.
Das oft beklagte Schicksal der Dissidenz, nur als weiteres Schmankerl
von der Marktwirtschaft oder von den subventionierten Kulturenklaven als
Kreativitätsreservoir vereinnahmt zu werden, endet da, wo sie über den
verfassungs- und eigentumsrechtlichen Rahmen hinausdenkt, und mit Aktivismus
verknüpft.
[26] Subkultur ist ein oft in Anspruch genommener Begriff; gemeint ist hier nicht der ideologische oder inhaltliche Gehalt von dieser oder jener Subkultur - das würde wieder in die üblichen Essentialismen und Projektionen enden, sondern die Methoden der Aneignung.
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